Arzneimittelhersteller lassen ihre Produkte umfassend durch Patente schützen. Dies hat zur Folge, dass sie in einem Markt im kartellrechtlichen Sinn, welcher bezüglich eines Arzneimittels eng definiert wird, eine marktbeherrschende Stellung erlangen können. Diese Situation kann insbesondere bei Medikamenten gegen seltene Krankheiten (sog. orphan deseases) auftreten, da es in solchen Fällen oft an Alternativprodukten fehlt. Ein Direktvertrieb eines solchen Arzneimittels durch den Hersteller kann, insbesondere bezüglich den Zwischenhändlern, eine unzulässige Geschäftsverweigerung im Sinne einer Liefersperre sein. Dieses Problem wurde bereits erkannt und diskutiert.[1] Bisher wurde es jedoch nie aus dem Blickwinkel von Art. 8 EMKR erörtert.
Art. 8 EMRK schützt die freie Gestaltung des Privat- und Familienlebens. Der Schutzbereich von Art. 8 Abs. 1 EMRK erfasst dabei auch die berufliche Tätigkeit einer Person. Gemäss Art. 34 EMRK sind juristische Personen des Privatrechts durch die EMRK geschützt. Folglich sind auch juristische Personen ohne Weiteres in der freien Gestaltung ihres Lebens, respektive ihrer Geschäftstätigkeit, grundsätzlich geschützt. Wird einem Arzneimittelhersteller, welcher bezüglich einem oder mehreren seiner Produkte eine marktbeherrschende Stellung einnimmt, aus kartellrechtlichen Gründen den Direktvertrieb des entsprechenden Medikaments verboten, so ist dessen Freiheit nach Art. 8 Abs. 1 EMRK tangiert.
Ein solcher Eingriff in den Schutzbereich ist gemäss Art. 8 Abs. 2 EMRK nur dann erlaubt, wenn der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.
Der Staat könnte sich auf das wirtschaftliche Wohl des Landes berufen, um die Zulässigkeit des Direktvertriebes eines Arzneimittels bei marktbeherrschender Stellung des Herstellers einzuschränken. Dieser Rechtfertigungsgrund wäre einschlägig, falls der Direktvertrieb zu höheren Marktpreisen führen würde und die Marktkräfte aufgrund der marktbeherrschenden Stellung des Arzneimittelherstellers nicht ausreichend wirken könnten. Im Fall Gillow vs. United Kingdom (Beschwerde Nr. 9063/80; Entscheid vom 24. November 1986) wurde bezüglich dem Wohnungsmarkt auf der Kanalinsel Guernsey eine Bewilligungspflicht für den Kauf einer Wohnung als rechtmässig beurteilt, da die Marktkräfte im Wohnungsmarkt zu schwach seien, um ein Gleichgewicht zwischen allen relevanten Interessen zu schaffen. Der EGMR anerkannte somit, dass ein Staat Eingriffe in die von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten Freiheiten vornehmen darf, um das Funktionieren des Marktes zu gewährleisten, sollte dieser dazu nicht selbst in der Lage sein.
Art. 8 Abs. 2 EMRK verlangt, dass der staatliche Eingriff verhältnismässig sein muss. Dies wäre ein Eingriff allenfalls nicht mehr, wenn der Direktvertrieb spürbare Vorteile für die Patienten hätte, wie z.B. kürzere Lieferzeiten oder bessere Beratung bezüglich Wirkung und Nebenwirkungen, und diese Vorteile bei einem Verbot des Direktvertriebes wegfallen würden. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass diese Vorteile nicht mit entsprechenden Massnahmen auch bei einem indirekten Vertrieb garantiert werden könnten. Bezüglich des Erfordernisses der Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft hat der Staat einen grossen Ermessensspielraum. Gemäss dem Entscheid Handyside vs. United Kingdom (Beschwerde Nr. 5493/72; Entscheid vom 7. Dezember 1976) überprüft der EGMR nur, ob der Vertragsstaat sein Ermessensspielraum nicht überschritten hat. Bekanntlich garantiert die EMRK nur einen Mindeststandard. Kartellrechtliche Eingriffe verletzten diesen Mindeststandard nicht.
Zusammenfassend kann nach einer kursorischen Prüfung festgehalten werden, dass Art. 8 EMRK den Direktvertrieb von Arzneimitteln bei einer marktbeherrschenden Stellung des Herstellers kaum vor kartellrechtlichen Eingriffen schützt. Die Behörden müssen jedoch berücksichtigen, dass insbesondere bei Arzneimittel gegen orphan deseases die Hersteller nicht übermässig stark eingeschränkt werden sollten. Der Anreiz solche Arzneimittel zu entwickeln besteht nur, wenn der Hersteller weiss, dass er genügend Gewinn erzielen kann, was u.a. massgeblich vom möglichen Vertriebsmodell abhängt.
[1] Siehe z.B. Samuel Schweizer, Die kartellrechtliche Zulässigkeit von (exklusivem) Direktvertrieb bei Arzneimitteln, in: Jusletter vom 6. Juli 2015.